Toleranzinduktion als Option auf Heilung

2022-10-14 21:57:01 By : Ms. Sweet Zhou

Von Theo Dingermann und Ilse Zündorf / Ohne ein voll intaktes ­Immunsystem kann der Mensch nicht überleben. Doch auch ein ­prinzipiell intaktes Immunsystem kann an Präzision verlieren und sich gegen harmlose Stoffe oder gar gegen den eigenen Körper ­richten. Dann entstehen Allergien und Autoimmunerkrankungen, die durch Entzündung und Gewebezerstörung geprägt sind. ­Therapien zur Kontrolle dieser Erkrankungen sind Standard. Doch gibt es auch Heilungsoptionen?

Etwa 5 bis 8 Prozent der deutschen Bevölkerung leiden an einer von ungefähr 80 bis 100 verschiedenen Autoimmun­erkrankungen – Tendenz steigend. Noch verbreiteter sind Allergien, die ein knappes Drittel der erwachsenen Bevölkerung plagen (1).

Hier reagiert das Immunsystem überschießend auf exogene Antigene.

Molekular betrachtet ist eine Allergie oder eine Autoimmunerkrankung das Resultat des Verlusts der Toleranz des Immunsystems, vor allem der T-Zellen, aber auch der B-Zellen, gegenüber harmlosen Fremdantigenen oder Selbstantigenen. Toleranz ist eine erlernte Eigenschaft des Immunsystems. Das bedeutet, dass Toleranz ausschließlich das adaptive (spezifische) Immunsystem betrifft. Unser genetisches Programm enthält keinerlei Information für Toleranz.

T- und B-Zellen bilden ihre Erkennungsmoleküle in Form der T- und B-Zell-Rezeptoren zunächst unabhängig von einem Antigenkontakt in ­einem zufallsgesteuerten Prozess. Erst in ­einem zweiten Schritt muss dafür ­gesorgt werden, dass autoreaktive Zellen aussortiert werden oder dass diese Zellen gegen bestimmte Moleküle ­inaktiv bleiben. Funktioniert dieser ­Prozess fehlerlos, resultiert Toleranz.

Mit Ausnahme einiger seltener monogener Erkrankungen ist die Entwicklung einer Autoimmunität ein komplexer und multifaktorieller Prozess. Dieser beruht zum einen auf ­einer genetischen Veranlagung. Dabei liegt das höchste genetische Risiko für viele Autoimmunerkrankungen in den MHC-Loci, was die heraus­ragende Rolle der Antigenpräsentierung einer Zelle und der Antigen­erkennung durch eine T-Zelle bei der Pathogenese von Autoimmunerkrankungen unterstreicht. Zum anderen spielen diverse Umweltfaktoren eine gewisse Rolle.

Das Zusammenspiel von Genetik und stochastischen äußeren Faktoren führt zu zahlreichen leichten Veränderungen an vielen verschiedenen Kon­trollpunkten (Checkpoints). In der Folge kippt das Gleichgewicht: weg von der Immunkontrolle und hin zur Autoreaktivität, (2).

Angesichts der Bedeutung dieses wichtigen Prozesses ist es durchaus an­gemessen, dass auf zwei Ebenen ­Mechanismen zur Toleranzentwicklung greifen:

Da Toleranz erlernt werden muss, ist es erforderlich, dass die Oberflächen, die immunologisch toleriert werden sollen, während des Lernprozesses ständig präsent sind. Diese Antigene bezeichnen wir als Tolerogene.

Abbildung 1: Mechanismen zur Etablierung der B-Zell-Toleranz

Erkennen B-Zellen im Knochenmark mit hoher Affinität ein (polyvalentes) Autoantigen, erhalten sie ein Signal, das Apoptose induziert (klonale Deletion). Diesem Signal können B-Zellen manchmal durch die Synthese einer neuen leichten Rezeptorkette mit ­einer veränderten Bindespezifität entgehen (»Rezeptor-Editing«). Liegt ein lösliches (monovalentes) Autoantigen vor, können B-Zellen als weiteren Toleranzmechanismus funktionell unempfindlich dagegen werden (Anergie) (Abbildung 1).

Insgesamt geht man davon aus, dass 85 Prozent der neu gebildeten ­B-Zellen im Knochenmark ausgemustert werden und nur 15 Prozent in die Peripherie auswandern (3). In der Milz findet anschließend der nächste Se­lektions- und Reifungsprozess statt, sodass die Zahl der potenziell autoreaktiven B-Zellen nochmals reduziert wird.

Schließlich bilden wahrscheinlich nur etwa 5 bis 10 Prozent der ursprünglich bereitgestellten B-Zellen einen Pool reifer naiver B-Lymphozyten (3). Sie stehen bereit für eine Stimulation durch ein passendes Antigen und der entsprechenden T-Helferzelle und differenzieren dann zu Antikörper-produzierenden Plasmazellen und B-Gedächtniszellen – der ganz normale Vorgang zur Pathogenabwehr.

Das Vorkommen autoreaktiver Antikörper ist auch bei Gesunden keine Seltenheit. B-Zellen, die solche Moleküle synthetisieren, sind dann akzeptabel, wenn die passenden T-Helferzellen fehlen, die normalerweise die Autoantikörper-produzierenden B-Zellen zur Proliferation und zur Differenzierung aktivieren würden. In diesem Fall kann eine B-Zell-Toleranz auch als Konsequenz der T-Zell-Toleranz entstehen (4).

Auf ähnliche Weise wie die B-Zellen durchlaufen auch T-Zellen einen komplexen Selektionsprozess, der für viele Lymphozyten den Tod durch Apoptose bedeutet. Im Gegensatz zu B-Zellen, die mit ihren B-Zell-Rezeptoren lösliche Antigene erkennen, reagieren T-Zellen immer auf eine Antigenpräsentation über MHC-Moleküle auf anderen Körperzellen. Somit muss eine T-Zelle ­einerseits die körpereigenen MHC-­Moleküle erkennen (positive Selektion, MHC-Restriktion) und darf andererseits nicht gegen Autoantigene aktiv werden (negative Selektion).

Dieser Reifungs- und Selektionsprozess erfolgt im Thymus, in den die Vorläufer-T-Zellen aus dem Knochenmark einwandern (4). Ähnlich willkürlich wie die Gene für die beiden Antikörperketten des B-Zell-Rezeptors rearrangiert werden, entsteht in den unreifen T-Zellen zunächst ein Prä-T-Zell-Rezeptor, der sich zu einem Komplex mit CD3-Oberflächenmolekülen zusammenlagert. Zusätzlich exprimieren die T-Zellen ­sowohl das CD4- als auch das CD8-­Antigen.

Diese doppelt-positiven Zellen überleben nur drei bis vier Tage, es sei denn, ihr T-Zell-Rezeptor findet einen Bindungspartner in Form einer Epithelzelle im Cortex des Thymus, die ein MHC-Molekül mit einem Peptid trägt (positive Selektion). Nur 10 bis 30 Prozent der T-Zellen erkennen mit ihren Rezeptoren ein körpereigenes Peptid in einem MHC-Komplex, der auf Epithelzellen des Thymus-Cortex exprimiert wird. Ist die Bindung an solche Selbst-Antigene jedoch zu stark, werden die T-Zellen in die Apoptose geschickt.

Anschließend wandern die positiv selektionierten T-Zellen in die Medulla des Thymus. Dort befinden sich neben Epithelzellen vor allem auch dendri­tische Zellen, die ganz verschiedene ­Autoantigene des Körpers präsentieren. Mithilfe des Transkriptionsfaktors AIRE (Autoimmun-Regulator) wird erreicht, dass die antigenpräsentierenden Zellen auch Gene exprimieren, die eigentlich nur in ganz anderen Organen vorkommen (5-7). Dieser Effekt wird auch als promiskuitive Genex­pression bezeichnet und dient dazu, die ­T-Zellen tolerant gegenüber organ­spezifisch exprimierten Antigenen des Körpers zu machen.

All jene T-Zellen, die Antigene erkennen, die von dendritischen Zellen oder Thymus-Epithelzellen exprimiert werden, werden in die Apoptose geschickt (negative Selektion). Auf diese Weise werden selbstreaktive T-Zellen eliminiert, sodass schließlich ein reifes ­T-Zell-Repertoire resultiert, das sowohl auf das MHC-Muster des individuellen Menschen als auch auf Selbsttoleranz abgestimmt ist. Letztlich nehmen nur etwa 1 bis 2 Prozent der ursprünglich angelegten Thymozyten diese hohen Hürden.

Ebenso wie bei den B-Zellen gelangen auch vereinzelt selbstreaktive T-Zellen in die Peripherie. Hier greifen nun periphere Toleranzmechanismen, die zu klonaler Deletion, Anergie oder immunologischer Ignoranz führen. Zudem übernehmen regulatorische T-Zellen (Treg-Zellen) die Kontrolle selbstreaktiver Zellen. Treg entstehen immer dann, wenn T-Zellen starke Signale empfangen, die jedoch gerade noch keine ­Apoptose im Sinne einer negativen ­Selektion induzieren.

Abbildung 2: Wirkmechanismen von regulatorischen T-Zellen. Treg-Zellen greifen über unterschiedliche Wege in die Interaktion zwischen antigenpräsen­tierender Zelle und T-Zelle ein.

Die im Thymus gebildeten Treg-Zellen werden auch als natürliche oder Thymus-Treg-Zellen (nTreg oder tTreg) bezeichnet (8, 9). Sie sind dadurch charakterisiert, dass sie sowohl das für ­T-Helferzellen typische Oberflächenprotein CD4 als auch das für den hochaffinen Interleukin-2 (IL-2)-Rezeptor ­nötige CD25 auf ihrer Zellmembran tragen. Zusätzlich exprimieren sie nach ­Erkennen eines Antigens den Trans­kriptionsfaktor Forkhead-Box-Protein P3 (FoxP3). Die Bedeutung dieses Faktors wird deutlich bei Menschen mit dem sogenannten IPEX-Syndrom. Sie können FoxP3 nicht exprimieren und sterben in der Folge an einer tödlichen Multiorgan-Autoimmunität.

Ausgelöst durch die Expression von FoxP3 oder nach einer tolerogenen ­Behandlung differenzieren in der ­Peripherie – zusätzlich zu den nTreg – normale T-Helferzellen (Tconv) zu so­genannten adaptiven oder induzierten peripheren Treg-Zellen (pTreg) (10, 11). Gerade diese Zellen sind besonders interessant, wenn man eine fehlende Toleranz gegenüber einem Autoantigen wieder induzieren möchte, um eine Autoimmunerkrankung tatsächlich zu heilen.

Wesentlich an der Entwicklung der Treg-Zellen beteiligt sind die Stimula­tion des T-Zell-Rezeptors und die Signalgebung über IL-2. Ferner sind TGF-β und Retinsäure entscheidend für die Bildung von pTreg, die sich bevorzugt in Schleimhautoberflächen, insbesondere der Darmschleimhaut bilden (12, 13). Kommensale Bakterien sind für die ­Bildung der meisten pTreg im Kolon wichtig, da Bakterien im Darm ein ­TGF-β-reiches Milieu bereitstellen und Metaboliten produzieren, die ihrerseits epigenetische Modifikationen verur­sachen, die eine Umwandlung von ­konventionellen T-Zellen zu peripheren Treg-Zellen fördern (14, 15).

CD4+-CD25+-FoxP3+-Treg-Zellen sind also für die extrinsische Kontrolle der peripheren Toleranz unerlässlich. In dieser Funktion sezernieren sie unter anderem immunsuppressive Faktoren wie IL-10 oder TGF-β und unterdrücken eine TH1- und eine TH2-Antwort. Zudem kann über eine CTLA4-CD80-­Interaktion die Expression costimulatorischer Proteine auf antigenpräsentierenden Zellen reduziert werden, was sich indirekt auf die Stimulation der ­T-Zellen auswirkt. Und schließlich exprimieren einige Treg-Zellen verschiedene Proteasen, die als sogenannte Granzyme zusammen mit Perforin ­aktivierte T-Effektorzellen direkt ab­töten (Abbildung 2).

Verschiedene Mechanismen und Prozesse sind daran beteiligt, dass B- und vor allem T-Zellen die Toleranz gegenüber Autoantigenen verlieren. Dabei spielen genetische und immunologische Faktoren, aber auch Umweltfaktoren eine Rolle.

Es deutet immer mehr darauf hin, dass viele autoreaktive T-Zellen ungewöhnliche Bindungseigenschaften für ihre MHC-Peptidliganden haben. Tatsächlich können autoreaktive T-Zellen mit ungewöhnlichen TCR-Topologien einer thymischen Deletion entkommen, wenn die Bindung an den MHC/Peptid-Komplex zu ungenau ist, um die Apoptose auszulösen. Diese Theorie wird durch Strukturanalysen von T-Zellrezeptoren gestützt, die von Patienten mit Multipler Sklerose und Typ-1-Diabetes isoliert wurden.

Darüber hinaus scheint die Epitop-Präsentation im relevanten Gewebe die Reaktion von pathogenen CD8+-­ T-Zellen zu beeinflussen. Beispielsweise wurde beobachtet, dass Inselzellen des Pankreas von Personen mit MHC-Molekülen des Genotyps HLA-A*0201 nicht das typische, neun Aminosäuren lange Peptid der Glutamatcarboxylase 65 präsentieren. Stattdessen wird in kleinen Mengen ein Peptid mit zehn Aminosäuren präsentiert. Dieses wird von einigen autoreaktiven CD8+-T-Zellen erkannt, die dann die Inselzellen ­attackieren (16).

Ähnlich verhält es sich, wenn posttranslational modifizierte Peptide präsentiert werden. Beispielsweise treten bei Patienten mit rheumatoider Arthritis vermehrt Antikörper auf, die sich gegen citrulliniertes Fibrinogen und Kollagen richten und die Gelenke angreifen (17). Diese Art Proteinmodifikation wird vermehrt bei Rauchern gefunden, wodurch sich die Assoziation zwischen Zigarettenkonsum und rheumatoider Arthritis erklären lässt.

Toleranzverlust bei T-Zellen kann aber auch infolge einer Infektion auftreten. Verschiedene Mechanismen wurden beschrieben, von denen sicherlich die molekulare Mimikry die auffälligste ist (18). Die erste Idee, dass bestimmte Viren oder Bakterien dafür verantwortlich sind, dass der Mensch nach der Infektion eine Autoimmun­erkrankung entwickeln könnte, kam schon vor über 30 Jahren auf. Beim ­genaueren Vergleich konnten erstaunliche Homologien zwischen verschiedenen kurzen Proteinsequenzen gefunden werden. Dies betrifft zum Beispiel das basische Myelinprotein, das ähn­liche Epitope wie die Polymerase des Hepatitis-B-Virus, wie das Hämagglutinin von Influenza-Typ-A-Viren oder wie das L2-Protein des Humanen Papillomvirus 7 aufweist. Bei einer Infektion könnten also Virus-spezifische T-Zellen aktiviert werden, die genau dieses ­homologe Epitop erkennen und sich anschließend aber gegen die Myelinscheiden der Nervenzellen richten.

Abbildung 3: Ansätze zur Toleranzinduktion. Sind zu viele autoreaktive T-Zellen (rot) im Vergleich zu regulatorischen T-Zellen (grün) vorhanden, kommt es zu einer Autoimmunerkrankung (links). Therapieziel ist, das Verhältnis zwischen den beiden Zelltypen wieder herzustellen (rechts). Mit starken Immunsuppressiva werden die meisten T-Zellen eliminiert (oben). Über die antigenspezifische Therapie lassen sich vor allem autoreaktive T-Zellen abbauen (Mitte) und über die Treg-Zelltherapie wird direkt die Anzahl an Treg-Zellen erhöht (unten); modifiziert nach (29).

Derzeitige Immuntherapien richten sich meistens gegen proinflammatorische Zytokine und andere Entzündungsmediatoren. Aber auch zahlreiche andere Therapieansätze sind denkbar. Neben der Verbesserung der klinischen Parameter können einige dieser Ansätze auch die Langzeittoleranz fördern, indem sie das entzünd­liche Milieu, das für immunregula­to­rische Mechanismen schädlich ist, dämpfen.

Der Weg zur tatsächlichen Heilung einer Autoimmunerkrankung führt aber nur über die Wiederherstellung der verlorengegangenen Toleranz. Um dies zu erreichen, muss eine Immuntherapie das Gleichgewicht zwischen Effektor (Teff)- und regulatorischen ­T-Zellen (Treg) wiederherstellen, indem sie entweder die Zahl der pathogenen autoreaktiven T-Zellen verringert, die Zahl der Treg erhöht oder beide Strategien aktiviert (Abbildung 3).

Vor allem Allergien, aber auch manche Autoimmunerkrankungen können mit einer spezifischen Toleranzinduktion therapiert werden. Seit 1911 praktiziert man bei Allergikern nach Identifizierung der auslösenden Allergene eine Desensibilisierung. Eine wiederholte Exposition mit kleinsten Dosen des Allergens verschafft den Patienten oft für längere Zeit Linderung oder Symptomfreiheit. Bei der spezifischen Immuntherapie (SIT) werden Allergenextrakte als Molekülmischungen entweder über die Subkutis (SCIT, subkutane Immuntherapie) oder über die Schleimhaut (SLIT, sublinguale Immuntherapie) dem Immunsystem präsentiert (19).

Folgende immunologische Mechanismen werden favorisiert, die die ­Wirkung der SIT erklären können:

Neben den seit Langem eingesetzten Methoden der spezifischen Immuntherapie gegen exogene Allergene werden systemische Immuntherapien zur Wiederherstellung des Gleichgewichts von pathogenen und regulatorischen Zellen erprobt. Vor allem zwei Ansätze zur Induktion der Toleranz gegenüber Selbstantigenen werden heute experimentell getestet.

Bestimmte Viren, hier Influenza-Viren, ­können Autoimmunerkrankungen auslösen. Dies passiert, wenn sich virale und körper­eigene Antigene stark ähneln.

Die orale oder nasale Verabreichung von löslichen Selbstantigenen kann ­zumindest im Tiermodell effizient mehrere Autoimmunerkrankungen, einschließlich der experimentellen ­Autoimmun-Encephalomyelitis (EAE) und der Colitis, durch Anergie, Deletion oder Induktion von TGF-β- oder IL-10-­produzierenden Treg verhindern (Abbildung 4). Weit bekannt geworden ist dieser Ansatz durch die Beobachtung, dass sich eine Erdnussallergie bei gefährdeten Kindern vielfach durch einen frühen Kontakt mit Erdnüssen vermeiden lässt. Das war das Ergebnis der LEAP-Studie (Learning Early About Peanut Allergy), die im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde (20). Im Tierversuch war nun auch eine Impfstrategie zur Behandlung einer Erdnussallergie erfolgreich (21). Ob sich diese Resultate auf den Menschen übertragen lassen, muss erst noch gezeigt werden.

Der Ansatz zur Toleranzinduktion durch orale Verabreichung des Antigens findet derzeit eine prominente Anwendung in der POInT (Primary Oral Insulin Trial)-Studie, in die Risikokinder im Alter zwischen vier und sieben Monaten eingeschlossen sind. Die Kinder bekommen Insulinpulver oral. Das über die Schleimhäute des Munds und des Verdauungstrakts aufgenommene Insulinpulver soll dem Immunsystem eine Toleranz gegenüber dem körpereigenen Insulin antrainieren und dadurch die krankmachende Immunreaktion verhindern. Das oral applizierte Insulin dient natürlich nicht – anders als Insulin, das gespritzt wird – zur Senkung des Blutzuckers, da Insulin eine Magen-Darm-Passage nicht unversehrt übersteht (22).

Zusätzlich zur POInT-Studie initiierten die gleichen Wissenschaftler kürzlich auch die PINIT-Studie mit einem Insulin-Nasenspray. Eingeschlossen sind Kinder im Alter zwischen einem und sieben Jahren, die Diabetes-Risikogene tragen, jedoch noch keine Diabetes-Autoantikörper entwickelt haben (23).

Dagegen werden bei einer Hochdosis-Toleranzinduktion lösliche Peptide oder DNA intravenös verabreicht – mit recht gutem Erfolg. Allerdings wurden auch anaphylaktische Reaktionen und Exazerbation der Krankheiten beobachtet, was Bedenken hinsichtlich der Sicherheit dieser Therapie aufwirft.

Ein recht erfolgreicher Ansatz ist die Immuntoleranzinduktion (ITI) bei Hämophilie-Patienten, die Antikörper gegen den zur Substitution eingesetzten Faktor VIII entwickeln. Die Patienten bekommen täglich bis zu 300 I.E. Faktor VIII pro kg Körpergewicht intravenös verabreicht, um langfristig die neutralisierenden Antikörper zu beseitigen. Die Therapie ist zunächst einmal sehr ­teuer. Auf lange Sicht ist sie dennoch preiswert und gilt daher heute bei ­Hämophilie-Patienten mit Inhibitoren als Therapie der ersten Wahl (24).

Ebenfalls in diese Rubrik gehört die intravenöse Therapie mit Immunglobulinen (IVIG). Die Behandlung erfolgt mit IgG-Präparationen, die sehr unterschiedliche polyklonale Immunglobuline enthalten, die aus einem Plasmapool von mehreren Hundert gesunden Spendern hergestellt werden. In hohen Dosen werden sie zur Therapie von ­Autoimmunopathien und systemischen Entzündungen eingesetzt (25). Die ­Mechanismen sind komplex und be­inhalten die Immunregulation verschiedener Zelltypen und molekularer Signalwege.

Eine IVIG-Therapie scheint tatsächlich auch tolerogene Effekte zu indu­zieren, die es wert sind, bei Autoim­mun­erkrankungen weiter validiert zu werden, insbesondere in Kombination mit B-Zell-Depletionsstrategien. Primär ist IVIG zur Immunglobulin-Ersatz­therapie indiziert.

Abbildung 4: Wirkmechanismus der Toleranzinduktion über oral verabreichte Antigene. Orale Antigene gelangen auf verschiedene Weise aus dem Darm in das darmassoziierte lymphatische Gewebe (gut-associated lymphatic tissue, GALT). Dendritische Zellen im Darm sind insofern einzigartig, als sie die Treg-Differenzierung von FoxP3-Zellen induzieren können (links). Diese Eigenschaften von dendritischen Zellen resultieren aus ihrer Konditionierung durch kommensale Bakterien (Mitte), durch TGF-β und IL-10 aus den Darmepithelzellen und durch die von ­ihnen synthetisierte Retinsäure. Niedrigere Dosen des Antigens begünstigen die Induktion von Treg, während höhere Dosen des Antigens Anergie/Deletion als Toleranzinduktions-Mechanismus begünstigen (im Bild rechts).Die Leber kann ebenfalls eine Rolle in der oralen Toleranzinduktion spielen. Hoch dosiertes Antigen kann schnell von der Leber aufgenommen werden, wo es von dendritischen Zellen verarbeitet wird, die Anergie/Deletion und Treg induzieren; modifiziert nach (30).

Die meisten Träger bestimmter Allele der HLA-DRB1-Region (Klasse II Human Leukozyte Antigen) haben eine starke Disposition für rheumatoide Arthritis (RA). Sämtliche dieser RA-assoziierten HLA-DRB1-Allele (= HLA-DRB1*04-Subtypen und HLA-DRB1*01-Subtyen) kodieren in einer ihrer hypervariablen ­Regionen für ein Aminosäuremotiv aus fünf Aminosäuren (QKRAA, QRRAA oder RRRAA), das als »shared epitope« oder »rheumatoides Epitop« bezeichnet wird (26).

Die leckerste Art, Erdnussallergene aufzunehmen

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Die Hauptfunktion der HLA-Klasse-II-Moleküle ist es, den T-Helferzellen (CD4+-Lymphozyten) im Rahmen der Immunantwort »antigene Eiweißstoffe« zu präsentieren. Die Assoziation der RA mit spezifischen HLA-Klasse-II-Molekülen (shared epitope) lässt daher darauf schließen, dass bei der Entstehung der RA ein »arthritogenes Antigen« beteiligt ist. Dieses Antigen kann entweder exogenen (zum Beispiel virales oder bakterielles Protein) oder endogenen Ursprungs (zum Beispiel citrullinierte Proteine) sein und führt bei entsprechender genetischer Disposition oder dem Vorhandensein des »shared epitope« zur Aktivierung von T-Lymphozyten mit nachfolgender Produktion von Zytokinen, besonders TNF-α und IL-1.

Typ-II-Kollagen (CII) ist ein knorpelspezifisches Protein, das durch Verlust der Immuntoleranz Autoimmunreaktionen auslösen und Arthritis verursachen kann. Das Haupt-T-Zell-Epitop auf CII, aa259-273, kann durch mehrere HLA-DRB1*04-Allele in seiner nativen oder posttranslational glykosylierten Form exponiert werden. Es bietet sich an, mit diesem Komplex aus MHC-­Molekül und Antigen in einem »Impfansatz« bei bestimmten Rheumapatienten Toleranz zu induzieren. Der zur Impftherapie eingesetzte etwa 50 kDa große MHC-II-Peptidkomplex wird in einem eukaryotischen Zell­system exprimiert (27).

Das Prinzip dieses neuen, durch ein grundlegendes Basispatent geschützten Behandlungsansatzes beruht auf einer Art »therapeutischer Impfung«. Dadurch werden gezielt zentrale körpereigene regulatorische Kontrollmechanismen zur Abschaltung auto­aggressiver, gegen Gelenkstrukturen gerichteter Reaktionen des bei der RA fehlgesteuerten immunologischen Abwehrsystems aktiviert. Die Vakzi­nierung stellt die immunologische ­Toleranz wieder her und entzieht dem Entzündungsprozess in den Gelenken den Treibstoff, der die Arthritis über Jahre aktiv hält und zu einer pro­gredienten Zerstörung von Knorpel und Knochen führen kann.

Eine therapeutische Impfung könnte Patienten mit ­rheumatoider ­Arthritis vor ­entzündlichen Spätschäden an den Gelenken ­bewahren.

Die »therapeutische Impfung« mit dem First-in-Class Medikament AC-001 bewirkt aufgrund ihres spezifischen zentralen Wirkmechanismus keine oder nur minimale Nebenwirkungen im Vergleich zu anderen Therapien. Die grundlegende protektive Funktion des Immunsystems wird in keiner Weise beeinträchtigt.

Im Vergleich zu aktuellen Therapien, die späte, zum Teil redundante Effektorwege im Krankheitsverlauf blockieren, werden hier frühere Mechanismen mit deutlich nachhaltigerer Wirksamkeit adressiert. Somit können Folge- und Spätschäden des Krankheitsbilds mit hoher Wahrscheinlichkeit vermieden werden (28). Tiermodellstudien deuten darauf hin, dass bei frühzeitiger Gabe des Immuntherapeutikums der krankheitsauslösende und -unterhaltende Pathomechanismus vollständig abgeschaltet wird, sodass es nicht zum Ausbruch einer destruierenden Gelenkentzündung kommt. /

Theodor Dingermann studierte Pharmazie in Erlangen. Nach der Approbation 1976 folgten Promotion und 1987 Habilitation. Von 1991 bis 2013 war er Geschäftsführender Direktor des Instituts für Pharmazeutische Biologie an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Jetzt ist er Seniorprofessor der Universität. Dingermann war von 2000 bis 2004 Präsident der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft und arbeitete in zahlreichen wissenschaftlichen Gremien, unter anderem beim BfArM. Die Apotheker kennen ihn als Referenten, Autor und Co-Autor von wissenschaftlichen Fach- und Lehr­büchern. Seit April 2010 ist er externes Mitglied der Chefredaktion der PZ.

Ilse Zündorf studierte Biologie von 1984 bis 1990 an der Universität Erlangen. Nach einem Forschungsaufenthalt an der University of Kentucky, Lexington, USA, wurde sie 1995 am Institut für Pharmazeutische Biologie der Universität Frankfurt promoviert. Zunächst als Akademische Rätin, seit 2001 als Akademische Oberrätin arbeitet sie am Institut für Pharmazeutische Biologie der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Forschungsthemen betreffen Herstellung und Charakterisierung monoklonaler Antikörper, Herstellung und Modifikation rekombinanter Antikörperfragmente sowie die Etablierung von zellulären Testsyste­men zur Wirkstoffsuche.

E-Mail: Dingermann@em.uni-frankfurt.de